Ok, ok – manchmal neige ich zu Übertreibungen. Diplomatie ist nicht meine Stärke. Und manchmal rege ich mich unnötig auf. „Schone Deine Nerven“, sagte ich mir deshalb im Vorfeld der Europawahl, „ändern kannst Du ja doch nichts“. Also ging ich nicht hin und war damit in bester Gesellschaft. 58 Prozent der stimmberechtigten Deutschen haben auf diese Wahl geschissen, in den EU-Ländern insgesamt waren es 57 Prozent und in Berlin sogar 67 Prozent. 30 Jahre nach der ersten Europa-Direktwahl ist die Ablehnung der EU so groß wie noch nie. Deutlicher kann man einen Denkzettel kaum formulieren, dachte ich mir und gab mich für einen Moment der Illusion hin, dass diese Form der Kritik bei den Mächtigen wie auch bei den Meinungsmachern ankäme.
Was aber muss ich in der Zeitung lesen? Es sei im Wahlkampf ja gar nicht um Europa gegangen, bemüht sich „Bild“ um eine Erklärung. Europa sei für die Nachkriegsgeneration selbstverständlich, mit Reisen ohne Pass, stabiler Währung und Frieden. Außerdem sei der Wahlkampf öde und ohne prominente Gesichter verlaufen, fügt Bild entschuldigend hinzu. „Wie bitte?“, frage ich – und spüre, wie mein Blutdruck steigt. Doch es kommt noch besser: Die Wahlmüdigkeit sei ein Zeichen grundsätzlicher Zufriedenheit mit Europa, fabuliert „Der Standard“ aus Wien und mein: „Es besteht kein wesentlicher Änderungsbedarf.“
STOPP! JETZT REICHT ES MIR!
Es ist schlimm genug, dass ich mit meinen Steuern einen Club finanzieren muss, dem ich nicht angehören will. Die EU ist noch immer ein gigantischer Geldverschiebebahnhof, der 40 Prozent seines Etats für Subventionen der Landwirtschaft verpulvert, statt eine soziale Marktwirtschaft zu fördern. Ein Schweinetrog, an dem die Schnellsten, die Cleversten, die Lautesten und die Unverschämtesten sich satt fressen. Ein Verein, dessen Mitglieder sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Tagungsort einigen konnten, sodass EU-Parlamentarier mitsamt ihren Heerscharen von Übersetzern wohl noch bis in alle Ewigkeit in einer absurden Prozession zwischen Brüssel und Straßburg auf unsere Kosten hin und her pendeln werden.
Das Schlimmste aber ist: Die EU ist keine echte Demokratie und insbesondere die deutschen Wähler haben mit ihren Stimmen dort fast keinen Einfluss (laut einer Emnid-Umfrage glauben dies 79 Prozent aller Befragten). Warum gab es bei uns keine Volksabstimmung über den EU-Beitritt? Wurden Sie nach Ihrer Meinung gefragt, bevor man die Mark abgeschafft und den Euro eingeführt hat? Wen hätte ich wählen können, um die Osterweiterung der EU zu verhindern? Warum durfte ich nicht mit entscheiden, ob Europa eine Verfassung braucht?
Wer angesichts solcher Missstände keinen „Änderungsbedarf“ erkennen kann, muss sich nicht nur fragen lassen, ob er das Wort „Demokratie“ wirklich verstanden hat. Und wer die offensichtliche Ablehnung der politischen Institution EU durch deren Bürger als „Zufriedenheit“ umdeutet, sollte statt Kommentaren lieber gleich Märchen schreiben. Ich jedenfalls habe die Europawahl nicht aus Faulheit versäumt. Vorsätzlich, bewusst, und um ein Zeichen zu setzen, bin ich nicht zu dieser Wahl gegangen. Im Wahl-Boykott sehe ich die einzige verbliebene Möglichkeit, um gegen eine Politik zu protestieren, die in erschreckender Weise den Willen der Mehrheit ignoriert.
Aber eigentlich wollte ich mich ja gar nicht aufregen. Und bevor Sie mich nun als Nationalisten beschimpfen oder gar in die Braune Ecke stellen, möchte ich klar stellen, dass ich an Freiheit, (Chancen-)Gleichheit und Gerechtigkeit glaube. In diesem Sinne hier ein paar Lesetipps (bei Kauf bekomme ich eine Provision) und Links zum Thema Demokratie:
- Die Wikipedia zum Demokratiedefizit in der EU
- Mehr Demokratie – Eine Bürgerinitiative für Volksabstimmungen und ein besseres Wahlrecht
- Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
- Die Machtfrage: Ansichten eines Nichtwählers
- Demokratie – Zumutungen und Versprechen
- Schöner Denken: Wie man politisch unkorrekt ist
Nachtrag von 2024: Noch immer glaube ich, dass die EU zuallererst ein Geldverschiebebahnhof ist zulasten arbeitender Menschen, vorwiegend in Deutschland. Natürlich braucht es einen übernationalen Treffpunkt, an dem die gemeinsamen Probleme Europas diskutiert werden, und einige Politiker wie z.B. Bernd Kölmel haben hier auch schon hervorragende Arbeit geleistet. Nehmt Euch ein Beispiel an diesem Mann, seid konstruktiv und arbeitet lösungsorientiert, statt entlang eurer politischen Ideologien. Dann gibt es Hoffnung für die Demokratie in Europa und vielleicht irgendwann einmal auf ein Parlament, das meinen Ansprüchen gerecht wird.