Etwa 80000 neue Bücher erscheinen jedes Jahr in Deutschland – und die meisten davon braucht kein Mensch. Ich denke, dies ist ein guter Grund, auf einen Klassiker hinzuweisen: Die „Gedankensammlung“ des 1882 verstorbenen Amerikaners Ralph Waldo Emerson, die unter dem Titel „Von der Schönheit des Guten“ erschienen ist (Bei Kauf bekomme ich eine Provision). Wahrscheinlich hätte der Autor schon wegen seines „komischen“ Namens keine Chance, sich heute Gehör zu verschaffen. Niemand würde den ehemaligen Wanderprediger in eine Talkshow einladen. Unter den Marktschreiern und Eso-Päpsten unserer Zeit würde der Non-Konformist eingehen wie eine Primel.
Emerson hat nie die große Bühne der Welt betreten, sein Leben hatte nichts Romanhaftes und nichts Romantisches, warnt sein Biograph Egon Friedell bereits im Vorwort des schmalen Bandes. „Die Grundeigenschaft, die Emerson als Mensch wie als Schriftsteller in gleichem Maße kennzeichnete, war eine ungeheure Selbstverständlichkeit, zu der alle aufregenden, auffallenden und überraschenden Züge nicht passen wollen“, schreibt Friedell. Emersons Leben sei im Gegensatz zu dem der meisten Menschen frei gewesen von Sprüngen, Rissen, unorganischen Beimengungen und Gewolltheiten, erfahren wir. Und dass er seine natürlichen Lebensbedingungen begierig aufgesucht habe, statt wie der Rest danach zu streben, sie willkürlich zu verändern. „Sein Leben floß mit der einfachen und ausgeglichenen Richtkraft eines Stromes dahin, der sich selbst sein Bett gräbt und durch die natürlichen Fallgesetze seinen Lauf bestimmt.“
Mich hat der 1882 verstorbene Emerson denn auch nicht mit seinen Taten beeindruckt, sondern mit seinen Gedanken, die kurzen Tagebuchnotizen entstammen und die mitunter als die „intellektuelle Unabhängigkeitserklärung Amerikas“ gepriesen werden. Dabei ist die lockere Form der Darstellung stark beeinflusst von einem anderen Querdenker, dem „Erfinder“ des Essays, Michel de Montaigne.
Wie Montaigne hat auch Emerson seine Gedanken bestimmten Themen zugeordnet. So schreibt er über Kunst und Kultur, Natur und Gesellschaft, Arbeit und Wohlstand, Liebe und Schönheit, Erfahrung und Erfolg, Freundschaft und Schicksal. Er denkt nach über Intellekt und Illusion, über Mut und Selbstständigkeit, über Frömmigkeit oder das Alter. Und er verrät uns seine Meinung über berühmte Zeitgenossen wie Goethe und Napoleon, ebenso wie über verstorbene „große Männer“, von Plato über Shakespeare bis zu Montaigne.
Nicht jede Meinung Emersons muss man teilen. Und mehr noch als die antiquierte Sprache verhindert die enorme Dichte der Ideen die schnelle Lektüre an einem verregneten Sonntag-Nachmittag. Doch wer bereit ist, diese kleinen Hürden zu überspringen, wird dafür mit jeder Menge tiefer Einsichten und Inspirationen belohnt. Meine Ausgabe des Buches habe ich mit zahlreichen Markierungen und Randnotizen versehen. „Von der Schönheit des Guten“ ist ein Buch zum Mitdenken und es zählt sicher zu den wenigen Werken, die mir das Gefühl geben: Einmal lesen ist nicht genug.
Gut möglich auch, dass Überlegungen, die mir wenig einleuchtend erschienen, anderen Lesern umso mehr Gewinn bringen (oder dass sie die eine oder andere Passage verstehen, die mir zu hoch erschien…). Warum ich „Von der Schönheit des Guten“ zu meinen Lieblingsbüchern zähle, wird hoffentlich durch die folgenden Zitate klar. Sie sind eine kleine Auswahl jener Passagen, die ich mir dick angestrichen habe. Und wer darin nichts Besonders finden kann, mag getrost auf die Lektüre verzichten.
Der Schöpfer des guten Buches ist der gute Leser. Ein guter Kopf wird nichts nutzlos lesen: in jedem Buche findet er vertrauliche Mitteilungen und Seitenbemerkungen, die allen anderen verborgen bleiben und die zweifellos nur für sein Ohr bestimmt sind…
Jedes Schiff ist ein romantischer Gegenstand, solange wir nicht darin sitzen. Steige hinein, und die Romantik flieht dein Fahrzeug und hängt sich an das Segel des nächsten Schiffes. Unser Leben erscheint uns trivial, und wir scheuen die Erinnerung daran. Der Mensch scheint vom Horizont gelernt zu haben, der auch die Kunst besitzt, immer zurückzuweichen und sich immer auf andere zu beziehen.
Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, daß die gegenwärtige Stunde nicht die kritische, die entscheidende Stunde sei. Schreibe es in dein Herz, daß jeder Tag der beste Tag des Jahres ist. Niemand hat vom Leben etwas ordentliches gelernt, solange er nicht weiß, daß jeder Tag Gerichtstag ist… Der allein ist reich, dem der Tag gehört.
… es gibt keinen Menschen, der nicht seinen Lastern zu Dank verpflichtet wäre, wie es keine Pflanze gibt, die sich nicht von Dünger nährte. Wir wollen nur eines: daß der Mensch sich veredle, und daß die Pflanze wachse und den Mist in schöne Blüten verwandle.
Der Verstand kann sich gerade so wenig selbsttätig entleeren, wie es eine Holzkiste kann. Der Wunsch, uns beim Sprechen den Bedürfnissen eines anderen anzupassen, kürt unseren eigenen Geist. Eine bestimmte Wahrheit hat von uns Besitz ergriffen und ringt mit allen möglichen Mitteln danach, sich zum Ausdruck zu bringen. Jedesmal, wenn wir etwas gesprächsweise von uns geben, vollbringen wir eine mechanische Arbeit, indem wir es leicht und handlich weiterbefördern. Ich schätze die mechanischen Leistungen des Gesprächs. Ein Gespräch ist Flaschenzug, Hebel und Schraube.
Andere Gedanken erschienen mir zunächst als Binsenwahrheiten, deren Tiefe sich erst bei einem kurzen Innehalten offenbarte. Ein Beispiel:
Alles Gute liegt auf der goldenen Mittelstraße. Die mittleren Regionen unseres Lebens sind die gemäßigten Zonen. Wir können in die dünne und kalte Luft der reinen Geometrie und der leblosen Wissenschaft klettern, und wir können in die Welt der Sinne herabsinken. Zwischen diesen beiden Extremen liegt der Äquator des Lebens, des Gedankens, des Geistes, der Poesie – ein schmaler Gürtel.
Als gelernter Naturwissenschaftler, Skeptiker und bekennender Gegner jeder Art von Eso-Quatsch, hat mir der folgende Ausspruch gut gefallen:
Flache Menschen glauben an Glück, glauben an äußere Umstände: irgend ein Name war schuld, oder man hätte damals gerade woanders sein sollen, oder es war damals so und an einem anderen Tag wäre es anders gewesen. Starke Menschen glauben an Ursache und Wirkung.
Jeder kennt sie. Die Nervensägen, Idioten und Blödmänner (im badischen heißen sie Dappschädel), die uns an den Rand des Wahnsinns treiben. Aber wer hätte schon jemals eine ähnlich tolle Beschreibung dieser Charaktere geliefert, wie Emerson?
Die Stupidität eines einzigen verdrehten Gehirns kann die besten Köpfe außer Rand und Band bringen, denn wir müssen ja mit seiner Albernheit kämpfen. Aber der Widerstand bringt den bösen Narren noch mehr in Saft, denn er glaubt, daß Natur und Schwerkraft völlig unrecht haben und nur er allein recht hat… Es ist wie in einem Boot, das zu kentern droht, oder in einem Wagen, an dem die Pferde scheu geworden sind: – nicht nur der verrückte Pilot oder Kutscher, sondern jeder Insasse ist gezwungen, die lächerlichsten und absonderlichsten Stellungen einzunehmen, um das Fahrzeug im Gleichgewicht zu halten und das Umstürzen zu verhindern. Wie sollten wir mit Leuten auskommen können, die nicht zu uns passen? Wenn wir mit ihnen zusammen bleiben, so ist der größte Teil unseres Lebens vergeudet, und unsere Erfahrung kann uns kaum etwas Besseres hierüber lehren, als unser erster Instinkt der Selbstverteidigung, nämlich: uns nicht mit ihnen einzulassen, uns in keiner Weise mit ihnen abzugeben, sondern ihrem Wahnsinn ruhig sein Lauf zu lassen.
Oder, aus aktuellem Anlaß:
… Wenn alle Menschen sich ausschließlich dem Bezahlen von Rechnungen widmen wollten, wäre das nicht eine Ungerechtigkeit? Hat man keine anderen Schulden als Geldschulden, und müssen alle übrigen Ansprüche hinter den Forderungen eines Wirtes oder eines Bankiers zurückstehen?
Bei gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen fließt das Eigentum von selbst von den Faulen und Unfähigen zu dem Emsigen, Tapferen und Ausdauernden.
Solange unsere Zivilsation in der Hauptsache sich auf Eigentumsrechte, auf Einzäumungen und Absperrungen stützt, wird sie immer das Opfer von Enttäuschungen sein.
Nicht alles scheint mir frei von Widersprüchen, doch selbst die Selbstzweifel, die Emerson durchscheinen lässt, bereichern die Lektüre:
Obwohl diese ewige Geschwätzigkeit im Ratgeben uns angeboren ist, so muß ich dennoch gestehen, daß wir aus dem Leben mehr Verwunderung als Belehrung ziehen. Es greift soviel Schicksal, soviel unüberwindliche Macht des Temperamentes und unbekannter Eingebung in unser Leben ein, daß es zweifelhaft erscheint, ob wir aus unserer eigenen Erfahrung irgend etwas sagen können, womit einem anderen gedient ist…
Das hält den Dichter aber nicht davon ab, uns zu raten:
Hänge kein trauriges Bild an deine Wand und beflecke deine Reden nicht mit schwarzer Schwermut. Sei kein Zyniker und kein Prediger der Trostlosigkeit. Jammere und wehklage nicht. Lasse alle verneinenden Reden. Belebe uns durch unaufhörliches Bejahen. Erschöpfe dich nicht in Kritteleien und kläffe nicht gegen das Schlechte, sondern erzähle uns von der Schönheit des Guten.
Das ist ein guter Ratschlag, finde ich. Und die gute Nachricht ist, dass man für das Taschenbuch keine zehn Euro ausgeben muss, zum Beispiel hier, bei meinem Werbepartner Amazon.