Rezept gegen Vorurteile? Aufräumen!

Unordnung und Schmutz führen zur Abgrenzung von anderen Menschen

Eine schmutzige und unordentliche Umgebung kann zur Abgrenzung von anderen Menschen führen und Vorurteile fördern. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie, die zwei Wissenschaftler der holländischen Universitäten Tilburg und Groningen in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht haben. Eine Erklärung für ihre Beobachtung haben der Psychologe Diederik Stapel und der aus Deutschland stammende Soziologe Siegwart Lindenberg gleich mitgeliefert: Eine schmuddelige Umgebung könne die Sehnsucht nach Ordnung auslösen und Menschen dazu bewegen, im Geiste die Dinge zu vereinfachen und in verschiedene Kategorien einzuteilen, schreiben sie.

Die Gelegenheit zum Testen ihrer Hypothesen verschaffte den Wissenschaftlern ein Streik des Reinigungspersonals am Bahnhof Utrecht, wo täglich mehrere Tausende Reisende auf ihre Züge warten. 40 dieser Reisenden gewannen die Forscher für eine Umfrage, bei der die ausschließlich weißen Teilnehmer auf einer Skala von 1 bis 9 beantworten sollten, ob bestimmte Eigenschaften auf Muslime, Homosexuelle oder Niederländer im Allgemeinen zuträfen.

Als Sitzgelegenheit zum Ausfüllen des Fragebogens bot man den Studienteilnehmern eine Reihe von sechs Plätzen an, von denen der erste jedoch bereits von einem dunkelhäutigen oder weißen Landsmann besetzt war. Eine Woche später – der Streik war inzwischen beendet und der Bahnhof wieder gesäubert – wiederholte man das Experiment. Dann verglichen Stapel und Lindenberg, wie viel Abstand die Versuchsteilnehmern zu ihrem weißen und zu ihrem farbigen Landsmann eingehalten hatten.

War der Bahnhof sauber, so setzten die Versuchsteilnehmer sich durchschnittlich etwas mehr als zwei Plätze von ihrem Landsmann entfernt nieder, um den Fragebogen auszufüllen. Der Unterschied zwischen weißen oder schwarzen Sitznachbarn betrug hier nur wenige Zentimeter. Im schmutzigen Bahnhof blieb der Abstand zwischen weißen Holländern praktisch unverändert. War der Nebenmann jedoch ein Farbiger, so wuchs der Abstand um fast eine Sitzbreite auf durchschnittlich drei Reihen. Zugleich ergab die Auswertung der Fragebögen, dass die Studienteilnehmer in einer schmutzigen Umgebung die Muslime und Homosexuellen viel stärker mit negativen Stereotypen beschrieben, als auf einem sauberen Bahnhof.

Mit einem zweiten Experiment zeigten Stapel und Lindenberg dann, dass nicht nur eine schmutzige, sondern auch eine unordentliche Umgebung die Diskriminierung anderer fördern kann. Diesmal hatten die Forscher 47 Passanten auf einer Straße in einer wohlhabenden Nachbarschaft befragt und dazu eigens ein paar Pflastersteine aus dem Belag gelöst, ein Auto falsch geparkt und ein Fahrrad an den Straßenrand gelegt. Tags darauf wiederholten sie ihre Befragung mit weiteren Fußgängern – allerdings waren die Pflastersteine diesmal an ihrem Platz, das Fahrrad ordentlich abgestellt und das Auto anständig geparkt. Wiederum verrieten die Antworten der Versuchspersonen auf der verwahrlosten Straße einen Hang zur Diskriminierung. Und in einer vorgetäuschten Geldsammlung für „Minderheiten, Immigranten und Obdachlose“ spendeten die Anwohner an diesem Tag von fünf Euro durchschnittlich nur 1,70 Euro. Tags darauf zeigten sich auf der gleichen, nun wieder aufgeräumten Straße wesentlich großzügiger und warfen nun im Mittel 2,35 Euro in die Sammelbüchse.

Drei weitere Laborversuche bestätigten den Verdacht der Wissenschaftler: „Menschen reagieren sehr empfindlich auf Unordnung.“ Und weiter: „Eine Umgebung, die als unordentlich empfunden wird, lädt die Menschen dazu ein, gegenüber anderen in Klischees zu denken.“ Stereotypen seien demnach eine Art „Reinigungsmittel“ für den Verstand, mit dem es leichter falle, in unordentlichen Verhältnissen zurecht zu kommen.

Stapel und Lindenberg geben sich indes nicht damit zufrieden, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu veröffentlichen, sondern sie haben daraus auch einen Ratschlag für Politiker abgeleitet: „Zeichen der Unordnung wie zerbrochene Scheiben, Graffiti und herumliegender Müll fördern nicht nur antisoziales Verhalten, sie führen automatisch auch zu Stereotypen und Diskriminierung.“ Deshalb müsse man verhindern, dass Wohngegenden verkommen und statt dessen in Reparaturen und Renovierungen investieren, fordern sie, denn das sei ein „relativ preiswerter und wirksamer“ Ausweg.

Letztlich fordern Stapel und Lindenberg damit auch die konsequente Umsetzung der so genannte „Broken-Windows-Theorie“ in die Praxis, die von den US-amerikanischen Politexperten James Q. Wilson und George L. Kelling vor nunmehr fast 30 Jahren durch einen Artikel in der Zeitschrift The Atlantic bekannt gemacht wurde. An dieser Vorstellung der zerbrochenen Fensterscheibe, die sofort repariert werden muss, um weitere Zerstörungen und ein abdriften ganzer Stadtviertel in die Kriminalität zu verhindern, orientierte sich Mitte der 1990er Jahre auch der damalige Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani. Das Ergebnis dieses Experimentes gilt noch heute als Bestätigung der Broken-Windows-Theorie: Binnen weniger Jahre reduzierte sich die Zahl der Raubüberfälle auf ein Drittel, die Zahl aller Straftaten ging um 75 Prozent zurück und New York zählt noch heute zu den sichersten Großstädten in den USA.

Quellen:

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