Seit mehr als 20 Jahren bin ich überzeugter Nichtwähler. Zerreiße die Postkarte mit der Wahlbenachrichtigung wütend, sobald ich sie aus dem Briefkasten gefischt habe. Mein Argument lautet, dass ich mit meiner Stimme nichts bewirken kann. Ob Euro-Rettungsschirm oder Wiedervereinigung, Libyen oder Rechtschreibreform, Atomausstieg oder Agarsubventionen: Ich kann mich an keine einzige wichtige Sachfrage erinnern, zu der das deutsche Volk nach seiner Meinung gefragt wurde. Und in den allermeisten Fällen zeigen die Umfragen, dass die überwiegende Mehrheit genau das Gegenteil von dem wollte, was unsere Staatslenker tun. Etwas schriller formuliert lautet daher mein Credo: wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.
Das Argument, dass wer nicht wählen geht, seine Stimme verschenkt, will ich nicht gelten lassen. Im Gegenteil sorgt jeder Wähler dafür, dass alles so bleibt wie es ist. So argumentierte auch Gabor Steingart in seinem Buch Die Machtfrage: Ansichten eines Nichtwählers. Steingart geißelt die Art, wie politische Parteien sich unseren Staat unter den Nagel gerissen haben. Das Grundgesetz sagt zur Rolle der Parteien, sie sollten „an der politischen Willensbildung mitwirken“. Inzwischen braucht man einen Parteiausweis, wenn man bei ARD oder ZDF Karriere machen will. Eine Gesinnungsprüfung muss auch jeder absolvieren, der Chef der Müllabfuhr in einer mittelgroßen Stadt sein will. Selbst ehemals unabhängige wissenschaftliche Berater werden zunehmend durch Parteibonzen ersetzt.
Ich will aber keine Parteien wählen, sondern Menschen. Und ich will meine Stimme nicht abgeben, sondern mitreden. Auch nach der Wahl. Ich will eine direkte Demokratie, in der ich über Sachfragen abstimmen kann. Ich will mich wehren gegen die Verbonzung unseres Landes. Und so stehe ich erneut vor dem Dilemma. Heute sind nämlich Landtagswahlen in Baden-Württemberg, und während ich diese Zeilen schreibe bleiben mir noch eine Stunde und 22 Minuten, mich zu entscheiden. Total verweigern oder das kleinere Übel wählen. Wieder einmal hatte ich die Diskussionen im Freundeskreis. Wieder einmal habe ich festgestellt, dass es keine Partei gibt, die meine Interessen vertritt. Nicht einmal zu 50 Prozent.
Und dann habe ich mir noch einmal die Kandidaten angesehen. Deren Profile verglichen und mich gefragt, wofür die einzelnen Kandidaten denn stehen. Welche Entscheidungen sie in der Vergangenheit gefällt haben, wie glaubwürdig sie sind usw. Dann die Entscheidung. Ich werde über meinen Schatten springen und denjenigen Kandidaten unterstützen, den ich für den glaubhaftesten halte. Denjenigen, der von seiner Partei am wenigsten abhängig zu sein scheint. Meine Wahl ist Winfried Kretschmann. Wunder erwarte ich von ihm keine, ein wenig mehr Ehrlichkeit in der Politik schon. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Noch 45 Minuten. Ich geh´ jetzt wählen…